"A Year without Summer" in der Volksbühne - Schockeffekte, Entertainment - und ganz viel Liebe
Florentina Holzinger greift in "A Year without Summer" wieder in die Vollen: Nacktheit, körperliche Verletzung, spektakuläres Empowerment sind an der Volksbühne zu sehen. Aber auch unerwartet zarte Momente. Von Fabian Wallmeier
Kann man über einen Abend von Florentina Holzinger schreiben ohne zu spoilern? Im Grunde nicht, denn all die Spektakel nur anzudeuten, würde ihm in ihrer Drastik, Dringlichkeit und grenzenlosen Weltumarmung nicht gerecht. Zwar ist so ein Abend von Florentina Holzinger natürlich immer viel mehr als die Summer seiner spoilerbaren Spektakel es jemals sein könnte. Dennoch sei hier ganz klar vorab gesagt: Dieser Text enthält Spoiler.
Schon am Anfang dieser Premiere am Mittwochabend wird ihr Event-Charakter heraufbeschworen - bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Beim Einlass in die bis in den Rang von Kunstnebelschwaden durchzogene Volksbühne laufen immer wieder Menschen mit Schildern die Treppen rauf und runter: Filmen ist bei Florentina Holzingers "A Year without Summer" strengstens verboten. Auch als gut zwei Stunden später die Premiere vorbei ist, sind sie wieder da.
Verwunderlich ist das nicht, denn Holzingers Abende zeigen nackte Körper nicht nur so liebevoll und empowernd, sondern auch so schutz- und schonunglos wie keine anderen es tun. Das stoische Schilderhochhalten hat aber auch einen gewissen Verschwesterungseffekt: Was an diesem Abend in der Volksbühne passiert, dürfen wir sehen und darüber reden und schreiben - aber die Bilder können wir nur im Kopf mitnehmen, sie gehören nur den Performerinnen auf der Bühne und uns im Publikum.
Weg von der Prämisse
"A Year without Summer" beginnt recht still und leise. Nur eine Performerin tritt durch den Nebel nach vorn und beginnt das Setting des Abends zu erklären: Das Jahr 1816 ging nach einem Vulkanausbruch in Indonesien als das Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein, weil die emporsteigenden Aschemassen den Himmel verdunkelten. Es war aber auch ein Jahr der Geschichten. Mary Shelleys große Monster-Geschichte "Frankenstein" etwa entstand in diesem Jahr. Was nun aber, wenn dieses Jahr auch ein Jahr ohne Sommer wäre, fragt sie. Und lässt zunächst im Bühnennebel, was damit gemeint sein könnte.
Florentina Holzingers Arbeiten haben oft eine solche Prämisse - und bewegen sich oft schnell von ihr weg und spinnen sich zu etwas viel Größerem auf: Erst vor knapp zwei Wochen war das bei der Rückkehr von "Sancta" im Rahmen des Theatertreffens zu erleben: Da wurde aus einer kurzen Oper über das sexuelle Erwachen einer Nonne eine weitschweifige Feier individuellen und kollektiven Begehrens, aber auch eine enorm empowernde Auflehnung gegen Traumata und katholische Unterdrückung.
"A Year without Summer" bewegt sich noch etwas weiter weg von seiner Grundidee. Von dem Jahr ohne Sommer etwa ist schnell gar nicht mehr die Rede. Sehr wohl aber von einer Verdunklung der Welt - und später auch von "Frankenstein".
Erst aber bleibt es zart: Eine Gruppe von für diesen Abend ins Holzinger-Ensemble aufgenommenen älteren Perfomerinnen tritt nun auf die Bühne. Sie tanzen miteinander sanft im Halbdunkel, dazu läuft der melancholisch-naive Klassiker "The End of the World". Jüngere Performerinnen (bei Holzinger treten grundsätzlich nur Frauen auf) kommen hinzu, sie liebkosen und betasten sich und ziehen einander ganz sanft aus (bei Holzinger sind irgendwann grundsätzlich alle nackt). Dann steigert sich diese Auftaktszene Abend langsam: Noch immer im Dämmerlicht, ganz ruhig und selbstverständlich mündet sie in eine mehr konzentriert-innige als orgienhafte Feier der Lust.
"Let's make life after death"
Und dann auf einmal: Musical. "Let's make life after death" wird nun gesungen - "Frankenstein", der Roman über ein aus Einzelteilen Zusammengesetzen und zu einem untoten Leben erwecktes Monster ist nun allgegenwärtig. Ein riesiger Frauenkörper wird aufgeblasen, ohne Kopf, Arme und Unterschenkel zwar, aber mit einer mächtigen Vulva in der Mitte, aus der dann nach und nach die Performerinnen ins Leben schreiten. Florentina Holzinger bekommt derweil noch einen daumengroßen Säugling aus einer zuvor zugenähten Spalte im Oberschenkelfleisch geschnitten. Solche tatsächlich echten Akte der körperlichen Verletzung gehören bei Holzingers Abenden dazu - und weisen in ihrem stolzen Empowerment weit über ihre Schockeffekte hinaus. So auch hier.
Dann folgt etwas nummernrevuehaftes und genau so derbes wie lustiges Entertainment, wie Holzinger und ihre Ensembles es gern zelebrieren, hier immer wieder verstärkt mit für den Abend geschriebenen Musical-Songs. Verschiedene Ärzte treten auf: Dr. Freud etwa schaut sich ganz genau eine Vagina an, versteht nichts und münzt seine offensichtliche Überforderung in wildes Dozieren um. Und der Auschwitz-Massenmörder Dr. Mengele tritt im "Todesmatch" gegen den auch durch seine rassistischen Grundannahmen bekannten Anatomie-Urvater Dr. Cuvier an
Spektakel, nicht zu knapp
Rassenlehre, Frankenstein, Größenwahn der Forschung, Psychoanalyse, Genetik, Unsterblichkeit, Musical: Ein bisschen verliert sich "A Year without Summer" in seinen vielen Ideen und Motiven. Immer wieder droht der gut zwei Stunden lange Abend auseinander zu fliegen. Doch letztlich bekommt er jedes Mal dann doch wieder die Kurve. Das liegt vor allem an seinem deutlichen Bekenntnis zu Schwankungen.
Noch mehr als frühere Abende von Florentina Holzinger ist "A Year without Summer" nämlich ein Abend der Extreme: Ja, es gibt Spektakel, nicht zu knapp: Das bei Holzinger schon öfter zu sehende "Hanging" kommt wieder vor: Eine Performerin bekommt Haken ins Gesicht gestochen und wird daran hochgezogen, dieses Mal sich selbst absichernd mit das Gewicht verlagernden Schnüre, die sie in den Händen hält. Und am Ende steht eine Scheiß- und Kotzorgie (diese allerdings nicht mit echten Ausscheidungen), wie man sie lange nicht mehr auf den Brettern der weiß Gott scheiß- und kotzorgienerprobten Volksbühne gesehen hat.
Aber zwischen all dem Exzess kommt "A Year without Summer" zur Ruhe wie selten bei Holzinger. Es gibt zum Beispiel eine Szene, in der vier Roboterhunde in einem verglasten Raum auf der Hinterbühne in stiller, stupider Bedrohlichkeit gegen die Scheibe hauen und rennen - bis vier ältere Performerinnen sich ganz langsam dem Raum nähern. Sie lassen die Hunde frei - und ihrer Bedrohlichkeit komplett entledigt laufen sie nun etwas blödsinnig, aber friedlich durch die Gegend. Das ist ein Bild von stiller, fast poetischer Kraft.
Je stiller, desto stärker
Vor allem aber strahlt der Abend, wenn es um das Aufeinandertreffen von Jung und Alt und um Fragen der Sterblichkeit und Endlichkeit geht. Die Scheiß- und Kotzorgie etwa ist gerahmt von Szenen ungeahnter Zartheit, in der die vom Tanz kommende Holzinger und ihr Ensemble statt zu sprechen sich Raum für körperlichen Ausdruck nehmen.
Da kommt aus einem Wust aus Schleim und Hautfetzen zunächst eine Gruppe jüngerer Performerinnnen zombiehaft zuckend nach vorn gekrabbelt. Die älteren helfen ihnen ganz sanft beim Anziehen weißer Ärztinnen- und Pflegerinnenkittel - und ganz organisch, wortlos und empathisch wendet sich das Blatt: Die jungen Performerinnen fangen nun an die älteren zu umsorgen, wickeln sie und legen sie ins Bett. Mitfühlend, mühelos - und sichtbar geprägt von ganz viel Liebe.
Gerade in diesen deutlich vom Tanz geprägten, stilleren Momenten zwischen den Exzessen ist der Abend am stärksten. Und so endet er auch: mit einer wohl sanftesten Applausordnungen in der Geschichte der Volksbühne - und mit Standing Ovations des Publikums.
Sendung: